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Was fliegt denn da?

Christine Kuhnert

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Journal für Natur (Ausgabe 2/2020).

Vögel bestimmen, Wildbienen beobachten: Die Bürgerforschung boomt. Denn Forschen kann jeder, und es macht Spaß!

"Da kreist ein Greifvogel": Hobbyornithologin Christine Kuhnert zeigt in den blauen Himmel. Mitten in Berlin, am S-Bahnhof Bellevue zwischen Bahnbrücke und Spree, zückt sie schnell ihr Fernglas, um die Art zu bestimmen. "Ein Mäusebussard", da ist sich Kuhnert sicher. Wenn sie auf der Vogelpirsch ist, dann ist das Fernglas ihr wichtigstes Werkzeug, gefolgt von ihrem Tablet. Denn auf ihm hat sie die vom Museum für Naturkunde Berlin entwickelte Naturblick-App installiert. Hier kann sie im Zweifelsfall Hilfe bei der Artbestimmung finden. Dank der kostenlosen App braucht sie jetzt keine Bestimmungsbücher mehr mit sich herumzuschleppen.

"Wer Vögel bestimmen möchte, kann einfach die App öffnen und den Gesang aufnehmen – und schwups spuckt die App eine Ergebnisliste aus", sagt Christine Kuhnert. Und was ihr besonders gefällt: Die Naturblick-App ist nicht nur bei Vogelstimmen ein gutes Werkzeug. Auch andere Tiere und Pflanzen lassen sich schnell bestimmen. Die 64-Jährige, die ehrenamtlich Vogelführungen für Kinder und Erwachsene in ganz Berlin gibt, empfiehlt Einsteiger:innen Bestimmungsapps wie die Naturblick-App. So können sie Berlins Stadtnatur selbstständig und in Coronazeiten kontaktfrei entdecken. Naturblick wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit gefördert.

"Es ist toll, Kinder an Naturbeobachtungen heranzuführen", sagt Kuhnert. Wegen Corona fallen ihre Vogelführungen und ihre Naturkindergruppe jedoch erst einmal aus. Und so ist die gelernte Steuerfachangestellte derzeit mehr im Spandauer Spektegrünzug unterwegs statt auf dem Tempelhofer Feld oder im Tiergarten. Ob sie bei den Vögeln in der Coronazeit Veränderungen bemerkt? "Mein subjektiver Eindruck ist, dass die Vögel irgendwie ein bisschen entspannter sind", lacht sie.

Christine Kuhnert und die Naturblick-App in Aktion

Pflanzen und Bienen in Gemeinschaftsgärten beobachten

Sind Naturbeobachtungen von Nichtbiolog:innen immer gleich Bürgerforschung? "Die Naturblick-App haben wir für die Umweltbildung entwickelt", sagt Ulrike Sturm, Projektleiterin am Museum. "Mit ihr wollen wir die Menschen für Natur begeistern und Wissen vermitteln." Gleichzeitig lässt sich die App für Citizen Science nutzen: "Alle Beobachtungen werden gespeichert und können dann anschließend wissenschaftlich ausgewertet werden", sagt Sturm. "Wir sprechen immer dann von Citizen Science, wenn die Bürger:innen zur Beantwortung einer konkreten Forschungsfrage beitragen."

Oft wird Citizen Science als Bürgerforschung oder Bürgerwissenschaft übersetzt. Hobbyforscher:innen, Laien oder Ehrenamtliche beteiligen sich dabei aktiv am Forschungsprozess.

"Citizen Science boomt derzeit. Möglich gemacht haben das unter anderem die neuen Technologien. Mit Smartphones können beispielsweise Naturbeobachtungen mit GPS-Koordinaten überall einfach und schnell für Wissenschaft und Naturschutz gesammelt werden", betont Sturm.

Die Zahl der Projekte wachse. Für einen deutschlandweiten Überblick gibt es seit 2013 das Portal Bürger schaffen Wissen. Hier findet man zahlreiche Initiativen, bei denen alle mitmachen können. In diesem Jahr ist die Plattform EU-Citizen.Science gestartet, die Citizen-Science-Projekte in Europa vernetzt. Neu ist seit diesem Frühling das Projekt Bienen, Bestäubung und Bürgerwissenschaft in Berlins Gärten. Gemeinsam mit der TU Berlin beobachten die Forschenden des Museums Pflanzen in über 20 Berliner Gemeinschaftsgärten. Man erhofft sich Antworten auf die Fragen: Wie können städtische Gärten zum Wildbienenschutz in Berlin beitragen? Wie können Gärtner:innen sowie die Stadtplanung Wildbienen und ihre Bestäubungswirkung in Gemeinschaftsgärten unterstützen?

"Dazu beobachten Gärtner:innen die Bestäubung von Tomaten-, Kürbis- und Paprikapflanzen", beschreibt Sturm das Prozedere. "Sie dokumentieren, wann die Pflanzen blühen, wann sie bestäubt sind und wann sie Früchte tragen. Bei der Ernte vermessen sie dann die Größe der Früchte". Forschende der TU Berlin dokumentieren gleichzeitig in diesen Gärten Wildbienen und die Eigenschaften der Gärten. Aus den Ergebnissen formulieren Gärtner:innen und das Projektteam anschließend Maßnahmen zum Wildbienenschutz in den Gemeinschaftsgärten.

Ulrike Sturm

Weil die Workshops wegen der Ansteckungsgefahr nicht persönlich stattfinden konnten, gab es kurzerhand Onlinemeetings und -videos. Die Natur zu beobachten und zu dokumentieren ist kontaktlos auch in Coronazeiten möglich.

Das Museum engagiert sich seit Jahren für Bürgerforschung und die Öffnung von Wissenschaft. Gerade entsteht ein Citizen-Science-Zentrum; gleichzeitig wird dieses Jahr die Berlin School of Public Engagement and Open Science zur Stärkung von Wissenschaftskommunikation gegründet. Bürgerforschung ist hier ein fester Bestandteil. Teilhabe an Wissenschaft ist, neben der Öffnung von Wissenschaft, eine Säule des Wissenschaftscampus für Natur und Gesellschaft, den das Museum mit der Humboldt-Universität zu Berlin in den kommenden Jahren entwickelt.

Die Bedeutung von Bürgerforschung wächst, weil sie einen Mehrwert für die Wissenschaft birgt. Denn es gibt eine Reihe von Datenlöchern in der Wissenschaft. Zum Beispiel, wenn es darum geht, die Verschmutzung von Gewässern oder die Luftqualität weltweit zu messen. Das Potenzial von Citizen Science ist riesig, da Bürger:innen unmittelbar vor Ort Daten erheben können. Vom 14. bis 15. Oktober 2020 organisiert das Museum daher eine durch die Europäische Kommission geförderte, internationale Citizen-Science-Tagung. "Forschen kann jede:r! Wir ermutigen Berliner:innen dazu, wissbegierig zu sein, Fragen zu stellen und Wissen weiterzugeben. Denn wir am Museum für Naturkunde Berlin sind überzeugt: In der Zusammenarbeit von Gesellschaft und Wissenschaft gewinnen beide Seiten“, sagt Silke Voigt-Heucke, Leiterin des Citizen-Science-Zentrums.

Wer weiß, vielleicht sind für das nächste Bürgerforschungsprojekt nur ein geöffnetes Fenster, ein Fernglas und ein Smartphone nötig. Eine, die dann gleich mitmacht, ist Christine Kuhnert: "Das Schöne an der Beobachtung von Vögeln ist, dass ich das noch mit 95 Jahren vom Fenster eines Seniorenheims machen kann – denn vor jedem Fenster singen die Vögel."

Text: Carmen Schucker
Fotos: Pablo Castagnola