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Team Schnecke

Ein Schneckenhaus in einem transparenten Aufbewahrungsgefäß.

Katharina von Oheimb hockt in einem Bett aus Efeu zwischen alten Gräbern und hebt mit einer Pinzette vorsichtig Blatt für Blatt an, schaut nach, ob auf den Unterseiten eines ihrer Forschungsobjekte sitzt. Die feuchte Witterung ist perfekt. An grauen Tagen wie diesem streift sie am liebsten durch den Friedhof Wilmersdorf. Gemeinsam mit ihrem Forschungs- und Lebenspartner Parm von Oheimb sucht sie dann nach schleimigen Weichtieren aus der Klasse Gastropoda, der „Bauchfüßer“, oder kurz gesagt: nach Schnecken. 

Mit den hohen Lederstiefeln und der blauen Werkzeugbox, könnte man die beiden für eine Art Sondereinsatzkommando halten. Ein charmant Lächelndes allerdings, dessen Mission nicht etwa der Tod ist, sondern das Leben, das hier zwischen den Grabstellen seine Nischen findet. Ihre Forschungsobjekte leben oftmals im Geheimen, gleiten zwischen Blättern und Steinen umher, in Ritzen und Hohlräume. Viele Schneckenexemplare sind so klein, dass Menschen sie kaum bemerken. 

„Mit ihren feuchten, trockenen, offenen und überwucherten Bereichen bieten Friedhöfe ein wertvolles Mosaik an Lebensräumen für Schnecken“, sagt Parm. „Und die Grabsteine bilden künstliche Felsen, die manche Arten gerne mögen.“ Wo sie sich wohlfühlen, finden sich dann auch ihre Fressfeinde ein, Igel etwa, Erdkröten, Blindschleichen, Mäuse und Vögel. Gerade auf ruhigen Friedhöfen. „Es sind erstaunlich lebendige Orte, wenn man mal genauer hinsieht“, sagt Katharina. 

Um zu untersuchen, wie groß die Schneckenvielfalt auf Berliner Friedhöfen ist, haben die beiden Biologen 2022 das Projekt „Leben zwischen Gräbern“ gestartet. Fünf Berliner Friedhöfe haben sie seither in Pilotstudien systematisch durchkämmt und dort 35 Schneckenarten nachgewiesen. Darunter so häufige wie die Hain-Schnirkelschnecke mit ihrer markanten Bänderung, aber auch seltene und mitunter bestandsgefährdete Arten. In Zukunft wollen sie viele weitere der rund 200 Friedhöfe in Berlin unter die Lupe nehmen.
 

Portrait

Im Kriechgang zwischen Gräbern 

Katharina hat ein etwa 20 Quadratmeter großes Feld mit weißroten Markierstäben abgesteckt: die Untersuchungsfläche. Was sie darin finden, notieren sie in Datenbögen und werten es teils auch im Labor aus. „Wir versuchen möglichst leere Gehäuse zu sammeln oder Tiere zu fotografieren, nehmen aber auch lebende Exemplare mit“, sagt Katharina. Sehr kleine Schnecken etwa, die sie mit Erdproben einfangen und unter dem Binokular identifizieren, oder Nacktschnecken, bei denen man die Fortpflanzungsorgane untersuchen muss, um sie zu bestimmen. 

Katharina hat eine Große Glanzschnecke gefunden – Oxychilus draparnaudi. „Die lebt verborgen im Laub und frisst andere Schnecken“, sagt sie und setzt das daumennagelgroße, harmlos wirkende Tier zurück aufs Laub. Kurz darauf streckt es seine Fühler aus. Katharina wendet sich wieder dem Efeu zu, findet kurz darauf eine Kantige Laubschnecke, die auf der Erde liegt. Es ist ein leeres Gehäuse mit Fraßspuren. Vermutlich wurde das Tier von einem räuberischen Käfer erbeutet; eine Maus hätte die Schale an einer Seite aufgeknackt, statt sie spiralförmig entlang der Windung aufzubrechen. 

„Über solche Beobachtungen können wir Rückschlüsse auf Interaktionen im Ökosystem ziehen.“ Die Kantige Laubschnecke, die ursprünglich aus Italien stammt und für die Region bis vor Kurzem unbekannt war, haben Katharina und Parm erstmals 2022 überraschend auf Berliner Friedhöfen nachgewiesen. Eine anschließende Analyse von Citizen-Science-Daten ergab, dass die Art 2019 schon mal in Berlin fotografiert worden war. „Auf dem Friedhof Wilmersdorf ist sie heute eine der häufigsten Schneckenarten“, sagt Katharina. „Möglicherweise steht sie in Konkurrenz mit heimischen Arten, verdrängt diese aber bisher nicht.“ 

Ziel des Friedhof-Projektes ist nicht allein die Erfassung der Vielfalt. Es soll auch aufklären, warum bestimmte Arten innerhalb von Städten wo verbreitet sind und wo nicht – und welche Faktoren dies begünstigen: die Lage des Friedhofes etwa, ob er durch Straßen und Gebäude isoliert ist oder an einem Grünzug liegt, wie lange er besteht und wie er bewirtschaftet wird. „Bezüglich der Ökologie von Landschnecken gibt es noch große Wissenslücken“, sagt Parm. „Wir versuchen einen Beitrag zu leisten, um einige davon zu schließen.“
 

  • Die Forschende Katharina von Oheim mit einer Pizette über einen Busch gebeugt um eine Schneckenart zu inspizieren.
  • Die Forschene Katharina von Oheimb untersucht mit einer kleinen Lupe eine Schneckenart an einem Baumstumpf.

Eine Liebe für das Schleimige und Skurrile 

Wenn Katharina oder Parm über Schnecken sprechen, dann hört man eine Begeisterung heraus, die nicht viele Menschen den schleimigen Tierchen entgegenbringen. Ekel verspüren sie nicht. Für die beiden sind Schnecken eher Wundertiere. „Es ist eine evolutionär sehr erfolgreiche Tiergruppe, die sich viele ökologische Nischen erschlossen hat, selbst in Wüsten können Schnecken überleben“, sagt Parm. 

Und dabei haben sie ganz besondere Eigenschaften entwickelt. So gibt es Nacktschnecken, die sich am Schleimfaden hängend eng umschlungen Paaren. Und unter den Meeresschnecken solche, die Blut von Fischen saugen oder sie gar mit einem Giftpfeil lähmen und fressen. Auf deutschen Friedhöfen lebt nicht zuletzt auch die Blindschnecke Cecilioides acicula, die an menschlichen Knochen in der Erde knabbert, um an Kalziumkarbonat für ihren Hausbau zu gelangen. 

Es war das anorganisch-chemische Praktikum für Biologiestudenten, das Katharina und Parm zusammenbrachte. Sie trafen sich im Grundstudium an der Justus-Liebig-Universität Gießen zum ersten Mal. „Wir merkten, dass wir sehr ähnliche Interessen hatten, haben bald beide an Weichtieren gearbeitet und sind auch ein Paar geworden“, sagt Katharina. Von da an gingen Liebe und Forschung Hand in Hand. Sie promovierten beim gleichen Doktorvater und zogen 2015 nach London. Dort begannen sie am Natural History Museum, sich den Landschnecken zu widmen. Als Schneckenexperten kamen sie 2019 auch ans Museum für Naturkunde Berlin, um an einem Projekt zur Biodiversitätserfassung in Vietnam mitzuwirken (siehe für Natur Nr. 7). 

Sie begleiteten zwei Expeditionen nach Südostasien, durchkämmten den Regenwald – und fanden allein im Dschungel des Nationalparks Cuc Phuong 116 Schneckenarten, darunter mehr als 30 bisher vermutlich unbekannte, die sie nun anatomisch und genetisch weiter untersuchen, um sie als neue Arten zu beschreiben.

Die Idee mit den Berliner Friedhöfen kam ihnen in der Coronazeit. Sie wollten ein Projekt vor der Haustür starten. Dass es ausgerechnet Begräbnisstätten wurden, denen sie sich zuwandten, war kein Zufall. Denn beide verbindet auch eine Leidenschaft für das Skurrile und Morbide. Sie haben schon mal eine Ausstellung zu Tieren organisiert, die im Volksglauben als Todesboten galten. Und seit 2012 verbinden sie auf ihrem Blog Schemenkabinett. Die kulturhistorischen Betrachtungen zu Tod und Vergänglichkeit mit naturwissenschaftlichem Wissen, beschreiben ungewöhnliche Bestattungsriten, erzählen von Besuchen in kuriosen Wunderkammern oder makabren Phänomenen der Tierwelt. 

An diesem trüben Tag im Frühjahr ziehen Katharina und Parm weiter über den Friedhof Wilmersdorf, vorbei an frisch geschmückten und zugewachsenen Gräbern und zur Blühwiese am ehemaligen Krematorium, wo Katharina mit sicherem Auge die in Berlin seltene Moos-Puppenschnecke entdeckt. Sie ist so klein, dass fast jeder in dieser Stadt sie vermutlich übersehen hätte.