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Menschliche Überreste am Museum für Naturkunde

Die Geschichte menschlicher Überreste in der Sammlung des Museum für Naturkunde Berlin. Forschung und historische Verantwortung

Im Rahmen des Zukunftsplans widmet sich das Museum für Naturkunde intensiv der Sammlungserschließung und ‑entwicklung. Im Zuge dieser Sammlungserschließung haben wir neue Erkenntnisse in Bezug auf menschliche Überreste am Museum für Naturkunde Berlin gewonnen, die im Folgenden dargestellt werden.

Das Museum für Naturkunde Berlin war Teil des lokalen und nationalen Netzwerks aus Institutionen, die menschliche Körper in ihre Sammlungen integrierten, kategorisierten, untersuchten und verkauften.[1] Bereits vor der Etablierung heutiger Disziplinen wie Biologie, Medizin und Anthropologie waren Wissenschaftler*innen unter dem Einfluss der Evolutionstheorie an der Rassifizierung, Objektifizierung und Kategorisierung von Menschen beteiligt.[2] Dabei wurden speziell im Zusammenhang mit der Kolonialexpansion, aber auch während der NS-Herrschaft und in der DDR ethische Grenzen bei der Aneignung und Untersuchung menschlicher Überreste überschritten.[3] Dies und die Bedeutung menschlicher Überreste für Herkunftsgesellschaften und Nachfahr*innen verlangen eine besondere Sorgfalt im Umgang mit diesen sensiblen Sammlungsteilen und bedingen eine besondere Priorisierung in Hinblick auf die Erforschung ihrer Herkunft.

 

Das Museum für Naturkunde Berlin im Kontext der Berliner Sammlungsgeschichte

Zum Netzwerk der Institutionen, die menschliche Überreste akquirierten und aufbewahrten, gehörten in Berlin mehrere Sammlungen. So entstand neben der ältesten anthropologischen Sammlung in Berlin, der Anatomischen Sammlung der Charité, eine weitere Sammlung (“S-Sammlung” am Museum für Völkerkunde) unter Felix von Luschan. Sie steht beispielhaft für die Wege einiger Sammlungen durch Berliner Institutionen: Nach Luschans Tod 1924 wurde sie an die Berliner Universität abgegeben, befand sich unter Eugen Fischer am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie und kam nach dem Zweiten Weltkrieg an das Institut für Anthropologie der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie zusammen mit der Rudolf-Virchow-Sammlung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) kuratiert wurde. Diese Bestände gelangten im Zuge der Hochschulreform 1968 an das Museum für Naturkunde, von dort 1996 an die Charité und 2011 in das Museum für Vor- und Frühgeschichte bzw. zurück in das Eigentum der BGAEU.[4] Dieses Netzwerk aus Institutionen ist historisch und sammlungsgeschichtlich miteinander verflochten. Es ist von einem geteilten historischen Zusammenhang auszugehen, der die institutionenübergreifende Untersuchung der Geschichte menschlicher Überreste in Berlin unabdingbar macht.

 

Human Remains am Museum für Naturkunde

Unsere Vorarbeiten haben bislang ergeben, dass am Museum für Naturkunde Berlin keine menschlichen Überreste mehr aufbewahrt werden, die mit Sicherheit kolonialen Kontexten zugeordnet werden können. Bei Beständen, zu denen es erste Hinweise auf einen von kolonialen Machtstrukturen gekennzeichneten Aneignungszusammenhang gibt, erforschen wir derzeit noch die genauen Erwerbsumstände, sodass die hier präsentierten Ergebnisse als vorläufig gelten müssen.  

In der paläontologischen Sammlung findet sich ein Schädel mit Unterkiefer aus Papua-Neuguinea mit ritueller Gravierung und Färbung auf dem Os frontale und einigen durch Holzstifte ersetzten Zähnen (MB.Ho. 169). Dieser kommt ursprünglich aus der Sammlung von Heinrich Christian Umlauff in Hamburg, der sich auf den ethnographischen Teil der Firma Umlauff spezialisiert hatte und “Völkerschauen” sowie Ausstellungen organisierte. Der Schädel stammt somit möglicherweise aus einem kolonialen Kontext. Die Erwerbsumstände sind Teil laufender Untersuchungen. In den letzten Jahren wurde der Schädel nicht für Ausstellungs-, Forschungs- oder Lehrzwecke genutzt. Allerdings ist es möglich, dass er vor den 1990er-Jahren in der Lehre verwendet wurde; zumindest legt das der Aufbewahrungszusammenhang in einem Schrank zur "Entwicklungsgeschichte des Menschen" nahe, der Skeletteile und Schädel für die Lehre enthält. Eine Fotografie des Schädels war überdies viele Jahre auf der Webseite des MfN zu sehen.

Ferner befinden sich in der paläontologischen Sammlung Knochen und Knochenfragmente aus Ecuador, die zwischen 1868 und 1876 angeeignet wurden und zum Teil anatomische Beschriftungen aufweisen. Im Sammlungskatalog, auf den Etiketten sowie in den dazugehörigen Publikationen gibt es weitere Hinweise. Wir zitieren sie im Original als Quelle für Fragen der Provenienz und als Beleg dafür, dass rassifizierende Benennungen die Kataloge und Veröffentlichungen des MfN bis heute durchziehen: „Rec. Indianerknochen der Coll. Reiss & Stübel cf. Branco Pal. Abh. 1. Punin, Ecuador“ (Sammlungsnummern MB.Ho. 508-532).[5] Der Definition und Übersicht im Leitfaden des Deutschen Museumsbundes zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten folgend, gilt Ecuador nach 1821 nicht als kolonialer Kontext. Es ist allerdings davon auszugehen, dass auch nach dem Ende formaler Kolonialherrschaft koloniale Strukturen fortwirkten, die die Erwerbsumstände von sterblichen Überresten der indigenen Bevölkerung durch Europäer*innen bestimmten.

Die genannten Wissenschaftler, Wilhelm Reiß (1838–1908) und Alphons Stübel (1835–1904), reisten zwischen 1868 und 1876 durch Südamerika, um Vulkane zu erforschen. Sie waren studierte Chemiker und Mineralogen, sammelten und forschten jedoch disziplinenübergreifend. Für die Publikation ihrer ethnologischen und naturkundlichen Sammlungen gewannen sie Fachleute.[6] Insbesondere ihre ethnologischen Sammlungen fanden großes Interesse. Sie befinden sich heute in den ethnologischen Museen in Berlin, Leipzig und Dresden. Dem Gräberfeld von Ancon in Peru, auf dem sie u.a. zahlreiche Mumienbündel, ausgruben, widmeten sie eine umfassende Publikation.[7]

Die im Sammlungskatalog und auf den Etiketten der menschlichen Überreste genannte Abhandlung enthält im Vorwort folgende Bemerkungen von Wilhelm Reiß:

„Ich möchte noch bemerken, dass in den von den Indianern der Umgegend erworbenen Sammlungen Knochen von lebenden Hausthieren und auch von Menschen vermischt mit den fossilen Resten erhalten wurden. Ebenso wie die aus den Tuffen ausgewaschenen fossilen Knochen müssen auch die Skelettheile der gegenwärtig auf den Weiden und Wegen gefallenen Thiere, sowie auch die Reste aus den in den Quebradas (Bergschluchten d.A.) angelegten Indianergräbern schliesslich in dem Bachbette zusammengeschwemmt werden. Für den Indianer sind alle Knochen gleich werthlos, da aber der Fremde die Kochen bezahlt, so bringt er ihm Alles, was er finden kann.“[8]

Das Zitat enthält nicht nur rassistische Sprache, sondern auch abwertende und pauschale Aussagen über den Wert menschlicher Überreste bei der lokalen Bevölkerung, die unter Umständen durch materielle Not zur Veräußerung von Knochen gezwungen war. Folgt man Reiß und Stübel, scheint der konkreten Erwerbskontext weder durch in dieser Situation ausgeübte Gewalt noch durch Grabplünderungen gekennzeichnet gewesen zu sein. Reiß und Stübel erwarben offenbar nichts absichtsvoll auf der Suche nach fossilen Säugetierknochen von der lokalen Bevölkerung Sammlungen von Knochen, die menschliche Überreste enthielten.

Weitere Ausführungen zum Erwerbskontext schildern die Situation in der „Knochenschlucht“ von Punin. Viele fossile Säugetierknochen lagen demnach herum, denn es wäre sonst schwer gewesen, sie aus dem Tuffstein zu lösen:

„Man ist darauf angewiesen, die durch die Regenwasser ausgewaschenen fossilen Reste zu sammeln, oder muss sich wenigstens auf die Loslösung solcher Stücke beschränken, bei welchem die Atmosphärilien schon vorgearbeitet haben. Und daran ist hier kein Mangel. Im Bachbett und an den Seiten sind Schädel entblösst, an den Schluchtwänden ragen die grossen Röhrenknochen wie mächtige Kleiderhaken hervor, und viele finden sich lose zwischen den grossen Blöcken im Grund der Schlucht.“[9]

Bislang lässt sich nicht nachvollziehen, ob diese menschlichen Überreste aus Ecuador für die Forschung verwendet oder ausgestellt wurden.

 

Weitere menschliche Überreste in der Sammlung des Museums für Naturkunde

Nach jetzigem Kenntnisstand finden sich noch folgende weitere menschliche Überreste am Museum für Naturkunde: Menschenknochen in der Osteologischen Vergleichssammlung zu Vergleichs- und Lehrzwecken, die zum Teil offenbar aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs aus ausgebombten Gräbern in Berlin oder aus Kriegsruinen stammen, dazu wenige aus Marokko ohne weitere Angaben sowie einige Knochen und Überreste aus deutschen und französischen Fundstellen. Ferner gibt es ein vollständiges Skelett, dessen Herkunft nicht bekannt ist. Es wurde zu DDR-Zeiten zum Größenvergleich vor dem Brachiosaurus brancai im Sauriersaal ausgestellt. Zudem gibt es in der Embryologischen Teilsammlung menschliche Überreste in Form von Entwicklungsstadien als Schnittserien oder als Alkoholmaterial. Die Embryologische Teilsammlung ist eine Dauerleihgabe aus den Niederlanden und nicht Eigentum des MfN. 

 

Nächste Schritte

Gegenwärtig entwickeln wir ein Forschungsprojekt zu den vorgenannten menschlichen Überresten am Museum für Naturkunde Berlin. Zusätzlich arbeiten wir daran, die menschlichen Überreste, die sich in der Vergangenheit im Naturkundemuseum Berlin befunden haben, zu dokumentieren und ihre Erwerbskontexte zu klären. Ziel ist es, die Forschungslücke zur Geschichte menschlicher Überreste am Museum für Naturkunde Berlin insbesondere in Hinblick auf die Verflechtungen der Museen und Universitätssammlungen in Berlin und deutschlandweit zu schließen. Grundlegend dafür ist, die Aneignung von menschlichen Überresten als Teil der Disziplinengeschichte der Naturkunde wie auch als Ausdruck einer weit verbreiteten transdisziplinären Sammelpraxis zu untersuchen.

Das Museum für Naturkunde Berlin arbeitet an einer Förderung für die intensivere Erforschung dieser Zusammenhänge und der eigenen Sammlungsgeschichte von menschlichen Überresten im Kontext der Berliner Institutionen. Erkenntnisse aus weiteren Forschungsprojekten zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten kommen unmittelbar der Erforschung der Geschichte menschlicher Überreste am MfN zugute.

Für Fragen und Hinweise kontaktieren Sie bitte humanities@mfn.berlin.

 

Nachweise:

[1] Vgl. etwa: Hinrich Lichtenstein, Verzeichniß einer Sammlung von Säugethieren und Vögeln aus dem Kaffernlande, Berlin: Druckerei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, 1842, S. 10.

[2] Vgl. Wiebke Ahrnd, Thomas Schnalke und Anne Wesche, Die Entstehung und Bedeutung von Sammlungen menschlicher Überreste in Europa, in: Deutscher Museumsbund (Hg.), Leitfaden zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen (2021), S. 66-74.

[3] Deutscher Museumsbund (Hg.), Leitfaden zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen  (2021), S. 28.

[4] Vgl. u.a. We Want Them Back! Wissenschaftliches Gutachten zum Bestand menschlicher Überreste/Human Remains aus kolonialen Kontexten in Berlin, beauftragt von der Koordinierungsstelle für ein gesamtstädtisches Konzept zur Aufarbeitung Berlins kolonialer Vergangenheit , verfasst von Isabelle Reimann (im Druck); Holger Stoecker, Thomas Schnalke und Andreas Winkelmann (Hgg.), Sammeln, Erforschen, Zurückgeben? Menschliche Gebeine aus der Kolonialzeit in akademischen und musealen Sammlungen, Berlin: Ch. Links, 2013; Marius Kowalak, Vorläufige Ergebnisse interdisziplinärer Provenienzforschung an tansanischen human remains der Insel Musila, in: Sandra Mühlenberend, Jakob Fuchs, Vera Marušić, und Hochschule für Bildende Künste Dresden (Hgg.), Unmittelbarer Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Universitätssammlungen. Stimmen und Fallbeispiele, 2018; Ulrich Creutz, 100 Jahre anthropologische Rudolf-Virchow-Sammlung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 27 (2006), S. 15–21.

[5] Vgl. W Branco (= Wilhelm von Branca), Über eine fossile Säugethier-Fauna von Punin bei Riobamba in Ecuador, nach den Sammlungen von W. Reiss und A. Stübel, mit einer geologischen Einleitung von W. Reiss, in: Palaeontologische Abhandlungen, Bd. 1, H. 2 (1883).

[6] Vgl. Max Uhle, Kultur und Industrie Südamerikanischer Völker, nach den im Besitze des Museums für Völkerkunde zu Leipzig befindlichen Sammlungen von A. Stübel, W. Reiss und B. Koppel, Text und Beschreibung der Tafeln von Max Uhle, 1. Bd. Alte Zeit, 2. Bd. Neue Zeit, Berlin: Verlag von A. Asher & Co. 1889-1890; Wilhelm Reiss und Alphons Stübel, Reisen in Südamerika. Lepidopteren, gesammelt auf einer Reise durch Colombia, Ecuador, Perú, Brasilien, Argentinien und Bolovien in den Jahren 1868-1877 von Alphons Stübel, bearb. von Gustav Weymer und Peter Maasen, mit 9 col. Tafeln, Berlin: Verlag von A. Asher & Co. 1890; Wilhelm Reiss und Alphons Stübel, Reisen in Südamerika. Das Hochgebirge der Republik Ecuador, Bd. 2, Petrographische Untersuchungen, bearb. im minerlog.-petrogr. Institut der Universität Berlin, Berlin: Verlag von A. Asher & Co., Berlin 1896-1902; Max Belowsky, Die Gesteine der ecuatorianischen West-Cordillere von Tulcan bis zu den Escalares-Bergen, Berlin 1892.

[7] Wilhelm Reiss und Alphons Stübel, Das Totenfeld von Ancon in Peru, Berlin: Verlag von A. Asher & Co. 3 Bde., 1880–1886.

[8] Wilhelm Reiss, Die geologischen Verhältnisse der Fundstellen fossiler Säugethier-Knochen in Ecuador, in: Branca, Säugethier-Fauna (1883), S. 10.

[9] Reiss (1883), S. 9. Vgl. auch Crónica de los fenómenos volcánicos y terreotos en el Ecuador etc. por T. Wolf, in: Neues Jahrbuch für Mineralogie etc. 1875.